GRIP 06

6/1/1993

Das ist Zeitgefühl

Gordian Mauggs OLYMPISCHER SOMMER

Von Stefan Müller

Gordian Maugg (26), Berliner Filmstudent, hat einen Traum in Bilder umgeformt. Der „Olympische Sommer” wurde soeben mit dem Silbernen Filmband des deutschen Filmpreises ausgezeichnet.

GRIP: Der Film kommt mit einer ganz anderen Bildsprache daher, die Geschwindigkeit wird oft variiert.
Maugg: Die Ergebnisse des Film sind nach vielen hundert Metern Testmaterial entstanden, das wir gedreht haben. Beispielsweise von stroboskopartigen Effekten, das heißt, dem einzelbildweisen Vervielfältigen von einzelnen Kadern, um ruckartige Bewegungen hinzukriegen und Überblendungsserien, die eine Filmlaufhandlung in ständigen Überblendungen produzieren. Man soll den Eindruck haben, die Bilder sind ein winziges Stückchen über der Erde und fliegen schon fast. Diese Tricks wurden sorgfältig ausgetestet und haben jenseits von aller technischer Verspieltheit eine dramaturgische Funktion. Wir haben versucht, Sehnsüchte und Träume unseres Protagonisten in ein neues visuelles Kleid zu packen. Wir wollten nicht die Traumlinse, den Nebel und die Fettblende, keinen Sprung von Farbe nach schwarz-weiß. Wir wollten aus einer dichten Verflechtung von original Archivmaterial, historischen Geräuschen und unserem inszenierten Material noch eine weitere Ebene aufmachen: Die Phantasien eines Jungen, der einen phantastischen Jahrhundertsommer erlebt hat, seine erste Liebe und jetzt, Monate später im Gefängnis festgehalten, an den Reminiszenzen, den unerträglich wiederkehrenden Erinnerungen zugrunde geht.
GRIP: Am Anfang des Film muß man sich erst auf die neue Bildsprache einlassen. Würdest Du sagen, das ist ein Experimentalfilm?
Maugg: Was mir an dem Wort Experimentalfilm nicht gefällt ist, daß man leicht in die Ecke gestellt wird: da hat sich technisch einer abgeorgelt. Wir haben versucht, nichts des Tricks wegen in diesen Film reinzusetzen. Sondern wir waren wirklich beseelt von dem Gedanken, die Geschichte einfach anders zu erzählen. Liebesgeschichten gibt es tausende - und vermutlich gibt es auch tausende von ungleichen Liebesgeschichten. Uns reizte, uns technisch den Umständen der Zeit anzupassen und dramaturgisch von der Bildsprache diesen Pathos mit hineinzuladen.
GRIP: Wie hast Du die Buchvorlage aufgetrieben?
Maugg (schmunzelt): Hier fangen schon die Legenden an, aber es hat sich wirklich so zugetragen, daß ich auf einer Studienreise unserer Hochschule in die damals noch bestehende Sowjetunion 1988 schlicht und einfach nichts mehr zu lesen hatte. Ich suchte eine Drushba-Buchhandlung auf, wo Literatur aus den sozialistischen Bruderstaaten angeboten wurde. Im kleinen DDR-Regal habe ich ein kleines Novellenbändchen von Günter Rücker, der mir als Autor überhaupt nichts sagte, gefunden. Für einen Rubel habe ich es erworben. Der Novellenband hat mich nicht mehr losgelassen. “Der Geselle”, die Novelle, auf welcher der Olympische Sommer basiert, ist ja nichts anderes als eine auf vier A-5-Seiten beschriebene kürzeste Erzählung von einem Jungen, der mit 16 aus der dörflichen Enge seines pommerschen Dorfes ausbricht. Er radelt einem Abenteuer entgegen, das sein Leben verändern wird.
GRIP: Der Fleischergeselle will ja ursprünglich zu den Olympischen Spielen, aber später denkt er nicht mehr daran. Als Kontrast dazu sind Originalaufnahmen aus dem Jahr 1936 einmontiert.
Maugg: Die Gestalt des Fleischergesellen ist eine von Grund auf naive Figur. Aber: die hat natürlich einen Reiz. Voltaire hat ja auch eine ganz naive Figur benutzt, um die Schwächen irgendwelcher Fürsten grundlegend zu unterminieren. Dieser Junge hat den naiven Gedanken, mit dem selbstersparten Fahrrad zu der Olympiade zu radeln. Von der Frau wird er im wahrsten Sinn des Wortes abgegriffen, auf das Bootshaus verfrachtet, wo er gehalten wird, um diese Frau nach allen Regeln der Kunst zu befriedigen, hat selbst seinen Spaß dabei und vergißt, warum er eigentlich gekommen ist. Wir ahnen ja von vornherein: oh, oh, das kann ja nicht gutgehen. Worüber soll sich die Witwe des ersten Standes mit dem 15jährigen Fleischergesellen unterhalten, wenn sie nicht gerade mit ihm im Bett liegt?!
GRIP: Aus der damaligen Perspektive war ja an Dreharbeiten in der DDR überhaupt nicht zu denken?
Maugg: Man kann sagen, daß unsere Ambitionen mit dem Fall der Mauer immer größer wurden. Hätte ich 1988 das Geld zur Verfügung gehabt, hätte er sicherlich anders ausgesehen. Rückblickend kann ich sagen, daß der Film weder vor vier Jahren noch heute in der Form hätte produziert werden können, wie er 1991 produziert worden ist. Zwei Kostümbildnern des Deutschen Fernsehfunks, die bereits ihre Entlassungspapiere in der Hand hatten, haben unsere sage und schreibe 200 Statisten mit allem ausgestattet. Wir haben auf ORWO-schwarz/weiß gedreht. NP 55, das war ein Material, das immer schon darunter litt, für DDR-Ware gehalten zu werden. Wir haben ORWO-Film für Spottpreise erworben. Wir wurden für verrückt erklärt, daß wir das kilometerweise abgenommen haben. Sieh mal einer an: Das Material, das weder in Kühlschränken gelagert und Jahre in Räumen zugebracht hat, haben wir hemmungslos in die Kamera gestopft. Herausgekommen ist ein samtenes Material, das die Aura der 30er Jahre atmet.
GRIP: Apropos 30er Jahre. Die Kamera stammt auch aus dieser Zeit.
Maugg: Die Askania Baujahr 1931 stammt aus einem Ostberliner Trickatelier am Prenzlauer Berg. Das hat sich glücklich gefügt. Wir dachten erst an einen FotoFilm, einen Film, der nur aus Fotografien besteht. Wir bekamen dann eine Kamera angeboten, welche die Eigenschaften erfüllte, die wir brauchten. Wir hatten vor, mit 18 Bildern in der Sekunde zu drehen, also der Kurbelgeschwindigkeit der 20er und 30er Jahre.
GRIP: Wenn langsamer gedreht wird, sind die Bilder nachher schneller, als heutzutage vom Auge gewohnt ist.
Maugg: Ja, die Projektionsgeschwindigkeit eines Kinofilms beträgt 24 Bilder pro Sekunde. Würde ich 36 oder 48 Bilder drehen, würden die menschlichen Bewegungen verlangsamt. Umgekehrt ist es genauso. Mit 18 Bildern erscheint es leicht slapstickhaft. Beziehungsweise erinnert es an historische Originalaufnahmen aus dieser Zeit.
GRIP: Otto Sander spricht den Off-Kommentar. Wie konnte er dazu bewegt werden?
Maugg: Das bringe ich nicht ohne Stolz vor. Für den Text konnte ich mir nur Sander vorstellen und habe ihn kurzerhand angerufen. Er hat sich von mir ins Kino zerren lassen und war so angetan, daß er sich überreden ließ, den Text zu sprechen. Mit einer beispiellosen Professionalität hat er den Text in 1 1/2 Stunden in mehreren Versionen zum Besten gegeben. Ich war mehr als zufrieden.
GRIP: Die Musik spielt eine sehr wichtige Rolle in diesem Film. Wurde sie vorher oder hinterher geschrieben?
Maugg: Der Soundtrack des Films besteht aus historischen Originalaufnahmen aus jener Zeit, die wir mühsam aus Archiven klaubten. Und natürlich ganz klar aus Schlagern. Je mehr der Krieg voranschritt, desto lustiger und kühner wurden die Schlager. Ein Großteil des Soundtracks lebt davon, die Hits zielgerecht anwendet. Das hat ganz lustige Komponenten, wenn der Peter Igelhoff das Lied von den Sommersprossen singt. “Ich bin ja so verschossen in deine Sommersprossen... ” Das hört man also über sonnendurchflutete Olympiabilder, wo uns lächelnde blonde Mädchen in leichten Sommerkleidern entgegenkommen, wo stolze junge Gecke in ihren Wehrmachtsuniformen das Frauchen zur Olympiade ausführen. Das ist Zeitgefühl.

Kategorie: Interview

Schlagworte: Filmemacher*in, Auszeichnung, Nachwuchs, Spielfilm

Artikel im PDF aufrufen