GRIP 41
11/1/2009
Geschichten aus der Wirklichkeit erzählen
Die Darmstädter Dokumentarfilmer Hannes Karnick und Wolfgang Richter
Von Claudia Prinz
Wie bei vielen bekannten Filmemachern begann die Karriere von Hannes Karnick und Wolfgang Richter im Vorführraum eines Studentenkinos, in diesem Fall an der TU Darmstadt, wo sie Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Kino betrieben, das als Uni-Kino noch heute existiert. Vom Filme-Zeigen bis zu eigenen filmischen Ambitionen ist es oft nur ein kleiner Schritt, erst recht, wenn zum praktischen Interesse auch filmtheoretischen Ausflüge kommen. Wolfgang Richter schrieb schon in seiner Studentenzeit über Film und berichtete für das ZDF von der Berlinale. Als beide anfingen, Filme zu machen, ernteten sie damit auf Anhieb so viel Aufmerksamkeit, dass sie sich 1972 dazu entschlossen, eine gemeinsame Firma zu gründen: docfilm ist eine der ältesten, heute noch existierenden Filmproduktionen in Hessen.
In dieser Zeit wurde auch das ZDF auf die beiden jungen Dokumentarfilmer aufmerksam. Bürgerbeteiligung, Beteiligung von Randgruppen und Minderheiten war damals en vogue und es wurden Leute mit Ideen für eine neuartige Jugendsendung gesucht. „Das Fernsehen war eigentlich nicht unser unmittelbares Interesse“, erinnert sich Wolfgang Richter, „und schon gar nicht das ZDF, das ja damals das Image hatte, so eine Art Adenauer-Fernsehen zu sein. Die mussten uns schon ziemlich überzeugen. Aber das hatte etwas Produktives und erzeugte eine Aufbruchsstimmung. Alle wollten jetzt etwas anderes versuchen, als das was es bisher gegeben hatte“. Für das ZDF-Jugendmagazin „direkt“ drehten Karnick & Richter bis 1978 circa 50 Filme mit Lehrlings- und Schülergruppen, die für ihre Rechte und Interessen eintraten.
Parallel dazu machten sie eigene Filme. Bereits 1970 hatten sie für „Frank Mills“ den Deutschen Kurzfilmpreis bekommen. Mit dem Fotofilm „Nur gemeinsam sind wir stark“, wurden sie 1971 zum ersten Mal auf das Dokumentarfilmfest nach Leipzig eingeladen, viele weitere Einladungen sollten folgen. "Dieser Film passte absolut in die Ideologie des Festivals, behandelte er doch den den Arbeitskampf in einer hessischen Firma“, sagt Hannes Karnick. "Wir hatten damals Bauchschmerzen, dorthin zu fahren, denn wir wussten nicht, was die mit dem Film machen. Aber wir wollten unbedingt dabei sein, wenn sie ihn zeigen. Und das war sehr spannend, denn das Festival war immer ein ganz besonderer Raum in der DDR, ein Raum für offeneren Meinungsaustausch zwischen Kulturen und Ideologien. Es gab ein ganz starkes Bedürfnis von den Kolleginnen und Kollegen in der DDR, etwas von uns zu erfahren, sich zu unterhalten, uns kennenzulernen und gesellschaftliche Entwürfe zu diskutieren“.
Es war die Zeit der Studentenbewegung, man verließ die Elfenbeintürme der Universitäten und entdeckte die Arbeiterklasse. Auch Karnick & Richter arbeiteten mit engagierten Interessenvertretern und Arbeiterjugendlichen zusammen und realisierten in ihrer Dokumentarfilmarbeit Themen aus diesem Bereich. Ihr 1975 entstandener Film „Grüße aus Neckarsulm“ behandelt den Kampf der Automobilarbeiter bei Audi. Während der ersten tiefgreifenden Wirtschaftskrise nach dem Krieg war Audi einige Zeit vorher vom VW-Konzern übernommen worden. Der Konzern wollte das Werk schließen, und die Beschäftigten wehrten sich dagegen.
Durch gute Kontakte zu den Vertrauensleuten und Jugendvertretern und einen gewissen Vertrauensvorschuss hatten Karnick & Richter die Möglichkeiten, dort zu drehen, wo die Fernsehteams nicht hinkamen. Der Film erhielt den Hauptpreis in Oberhausen und ist nach wie vor aktuell. Gerade wurde er für die Firma Audi „digitally remastered“. Sie wollte „Grüße aus Neckarsulm“ für ihr Jubiläum haben.
1985 entstand der Film, der Karnick & Richter endgültig in die vorderste Reihe der deutschen Dokumentarfilmer katapultierte: „Martin Niemöller: Was würde Jesus dazu sagen?" „Der Niemöller-Film ist sicherlich einer der ersten deutschen Dokumentarfilme, die im Kino relativ großen Erfolg hatten, die überhaupt als kommerzielle Filme im Kino wahrgenommen wurden“, so Wolfgang Richter. „Insofern spielt er nicht nur für uns eine wichtige Rolle. Im Unterschied zur Dokumentation im Fernsehen geht der Dokumentarfilm über das bloßen Erzählen von Fakten hinaus, seien es wesentliche Gedanken eines Menschen, gesellschaftliche, politische, oder kulturelle Zusammenhänge. Vor allem erzählt der Dokumentarfilm, genauso wie der Spielfilm, Geschichten, die Lust machen darüber nachzudenken, die der Zuschauer mit nach Hause nimmt und die für jeden ganz eigene Prozesse auslösen. Solche Produktionen dauern dann meist auch ihre Zeit. Unsere großen Dokumentarfilme brauchten alle einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren, von der Recherche bis zum fertigen Film."
So entstanden regelmäßig Dokumentarfilme fürs Kino und Fernsehen, die auf vielen in- und ausländischen Festivals gezeigt wurden und Preise erhielten. „Radio Star – Die AFN Story“ (1994) blättert unterhaltsam die (kultur-)politische Geschichte des amerikanischen Soldatensenders auf. Im „Labor der Hoffnung“ (2000) begleiten die Darmstädter Filmemacher als erstes Filmteam Patienten und Ärzte bei einer neuen Tumortherapie und mit „Klimawandel oder Klimakatastrophe?“ (2005) stellen sie kritische Fragen, noch bevor das Thema zum medialen Dauerbrenner avancierte.
Ihr neuester Film „Wenn Ärzte töten“ kommt demnächst ins Kino. Der berühmte amerikanische Psychiater und Autor Robert Jay Liften beschreibt, wie normale Ärzte von Heilern zu Mördern werden. Er entfaltet im Kopf der Zuschauer Bilder voller psychologischer Abgründe, vom Holocaust bis heute, über Wahn und Ethik der Medizin.
Gleichzeitig drehten Karnick & Richter Informations- und Imagefilme für öffentliche und private Einrichtungen und arbeiteten für ganz unterschiedliche Fernsehredaktionen, vom „Filmforum“ und dem „Sportspiegel“ im ZDF über den „Deutschen Alltag“ im WDR, Radio Bremens „Unter Deutschen Dächern“ bis zu „betrifft“ im SWR. Als kommerzielle Nische betrieben sie mit Gunter Oehme zehn Jahre lang ein kleines Tonstudio, das auch für viele Kollegen in Hessen eine ebenso professionelle wie günstige Anlaufstelle war.
Hannes Karnick und Wolfgang Richter sind Gründungsmitglieder der „Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm“ und werden als Experten zu film- und medienpolitischen Fragen gehört. Zudem ist Hannes Karnick Sprecher der AG DOK Hessen. Wolfgang Richter ist Mitglied der Auswahlkommission von „Hessen Invest Film“, im „Verband der deutschen Filmkritik“ und Mitglied der „Deutschen Filmakademie“. Als Hessische Filmproduktion verfolgen sie naheliegenderweise die Hessische Filmförderung, die Wolfgang Richter insoweit verhalten positiv kommentiert: „Hessen ist schon immer ein kleines Nirwana gewesen, und dass hier überhaupt eine Infrastruktur entstehen konnte, ist dem starken Auftragsvolumen der Werbewirtschaft zu verdanken, so dass sich Betriebe im Post-Production-Bereich etablieren konnten. Die Förderung ist jetzt zwar nicht großartig, aber in Ansätzen vorhanden und besser als das, was wir jemals früher hatten. Vor allem, seit es jetzt die wirtschaftliche Seite von Hessen-Invest-Film gibt, hat sich eine ganze Menge in diesem Land getan. Allein vier Spielfilme werden gerade jetzt hier gleichzeitig gedreht“.
Filmografie (Auswahl)
Powers born to Hell
1970, 42 Min. - Internationale Filmwoche Mannheim 1970 (Preis der Int. Jury für den besten Fernsehfilm)
Grüße aus Neckarsulm
1975, 54 Min. - Kurzfilmtage Oberhausen 1976 (Hauptpreis der Internationalen Jury), Dokumentarfilmwoche Leipzig 1976
Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken! - Willi Bleicher
1978, 35 Min. – Preis der Filmkritik für den besten deutschen Kurzfilm 1978, Kurzfilmtage Oberhausen 1978, Filmfestival Lille 1978, Dokumentarfilmwoche Leipzig 1978, Filmfestival Moskau 1979
Martin Niemöller: Was würde Jesus dazu sagen?
1985 - 100 Min. - Jury der Evang. Filmarbeit: "Film des Monats" 1985, Filmwoche Mannheim 1985, Dokumentarfilmwoche Leipzig (Silberne Taube) 1985, Filmfestival Montreal 1986, Berlinale Deutsche Reihe 1986, Chicago International Film Festival (Silver Plaque Award) 1987
Radio Star – Die AFN Story
1994, 95 Min. – Hof Film Festival 1994, Berlinale Deutsche Reihe 1995, Galway International Film Festival 1995, Denver International Film Festival 1995, Los Angeles AFI Film Festival 1995, Bombay International Film Festival 1996
Labor der Hoffnung
2000, 45 Min. - Bratislava EKOTOP Film and TV Festival (Award by the International Jury) 2000, Medicinale International München („Cum Laude“) 2000
Klimawandel oder Klimakatastrophe?
2005, 45 Min. - Bratislava EKOTOP Film and TV Festival (Grand Prix Award by the International Jury) 2005, Bangkok International South-East-Asia Festival of Scientific Film 2005
Wenn Ärzte töten
2009, 90 Min. demnächst im Kino
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Dokumentarfilm, Filmemacher*in, Institution, TV/Rundfunk, Imagefilm
